Der kleine Wolf

 

Es war einmal ein kleiner Wolf, der nicht wusste, dass er ein Wolf war. Er glaubte fest daran, er sei ein Hund. Wie es dazu kam, erzählt diese Geschichte.

 

Als der kleine Wolf noch ein Baby war, streifte er mit seiner Mama durch die weiten Wälder. Sie zeigte ihm, wie das Leben der Wölfe funktioniert, und schützte ihn vor Gefahren. Sie jagte für ihn, brachte ihm bei welche Beeren man essen darf und spielte mit ihm auf sonnendurchfluteten Lichtungen.

 

Eines Tages, als sie gerade durch den Wald schlichen, raschelte es plötzlich im Gebüsch. Die Mama-Wölfin blieb stehen. Aus dem Dickicht trat ein großer, bedrohlicher Bär. Er hatte sie noch nicht entdeckt, aber die Mama wusste: Sie musste handeln. Schnell legte sie den kleinen Wolf in einen nahen Busch, bedeckte ihn mit Blättern und flüsterte: „Bleib ganz still, mein Kleiner.“ Sie gab ihm einen schnellen Kuss und rannte los, um den Bären wegzulocken.

 

Der Bär bemerkte sie und setzte ihr nach. Doch die Wölfin war flink und gewann Vorsprung. Plötzlich hallte ein lauter Schuss durch den Wald. Ein Jäger! Vor Angst rannte der Bär in die entgegengesetzte Richtung davon. Der Jäger hatte eine Jagdhündin dabei, die sich aufmerksam umsah. Sie spitzte die Ohren und lauschte, denn aus einem Busch kam ein leises Wimmern. Mit ihrer feinen Nase fand sie den kleinen Wolf. Er sah traurig und verängstigt aus. Behutsam nahm die Hündin ihn mit nach Hause.

 

Dort angekommen, legte sie ihn in ihr weiches Hundekörbchen, in dem bereits vier kleine Hundewelpen lagen. Die Welpen beschnüffelten den kleinen Wolf neugierig und nahmen ihn sofort als einen der ihren auf. Gemeinsam tranken sie die Milch ihrer Mama, spielten im Garten und erkundeten die Welt. Der kleine Wolf fühlte sich sicher und geliebt. Doch manchmal, wenn er nachts schlief und der Vollmond am Himmel stand, hatte er seltsame Träume. Er hörte ein fernes Heulen, das ihn tief in seinem Inneren berührte. Wenn er erwachte, war er sich nicht sicher, ob es echt war oder nur ein Traum.

 

Einige Monate später beschloss die Hündin, ihren Welpen das Bellen beizubringen. Die kleinen Hunde waren begeistert und gaben ihr Bestes. Als der kleine Wolf an der Reihe war, kam statt eines Bellen ein tiefes, mächtiges Grollen aus seiner Kehle. Erstaunt hielt er inne. Doch seine Geschwister wichen ängstlich zurück und versteckten sich hinter ihrer Mama. Der kleine Wolf sah ihre verunsicherten Gesichter und spürte, dass er anders war. Von diesem Tag an war nichts mehr wie zuvor. Die Hunde mieden ihn, und er fühlte sich nicht mehr dazugehörig.

 

Eines Tages nahm die Hündin ihn mit zu einem ruhigen See. Sie sagte: „Schau ins Wasser.“ Zum ersten Mal sah der kleine Wolf sein eigenes Spiegelbild. Er erkannte sein graues Fell, die spitzen Ohren und die leuchtenden gelben Augen. „Du bist kein Hund, mein Liebling. Du bist ein kleiner Wolf. Aber ich liebe dich wie mein eigenes Kind.“ Der kleine Wolf war traurig, weil er so anders war. Er fragte sich, wo er wirklich hingehörte.

 

In einer Vollmondnacht, als alle schliefen, hörte er wieder das ferne Heulen. Diesmal war es lauter, klarer, und es zog ihn magisch an. Vorsichtig gab er seiner Hündin und seinen Geschwistern einen letzten Kuss und schlich sich davon. Der Wald war dunkel und fremd, doch der kleine Wolf spürte, dass er diesem Ruf folgen musste. Er lief die ganze Nacht, bis er vor Erschöpfung in einem Gebüsch einschlief. Als die Sonne ihn weckte, war er hungrig und durstig. Er fand einen Bach, trank und suchte Nahrung. Seine Instinkte halfen ihm, essbare Beeren zu erkennen. Der Wald kam ihm plötzlich vertraut vor, doch sein Herz war noch immer leer.

 

Als die Nacht erneut hereinbrach, hörte er das Heulen wieder – diesmal ganz nah. Er lief so schnell er konnte und erreichte eine Lichtung. Dort sah er auf einem Hügel die Silhouette eines großen Tieres, das den Mond anheulte. Das Heulen klang traurig und voller Sehnsucht. Der kleine Wolf rief: „Warum bist du so traurig?“ Die Wölfin sagte: „Vor langer Zeit habe ich meinen kleinen Jungen verloren. Ein Bär verfolgte uns, und ich musste ihn verstecken. Doch als ich zurückkam, war er verschwunden. Seitdem glaube ich, dass der Bär ihn gefunden hat. Jeden Vollmond komme ich hierher, um ihn zu betrauern und mich an ihn zu erinnern.“

 

Die Geschichte machte den kleinen Wolf so traurig das er anfangen musste zu weinen. Daraufhin drehte sich die Wölfin um und machte grosse Augen. Der kleine Wolf sah nun das Ihn grosse gelbe vertraute Augen ansahen, die er kannte. Die Augen waren zuerst erfüllt von Überraschung und dann voller Tränen und Liebe. Daraufhin lief die grosse Wölfin zu Ihm und schleckte vor lauter Freude sein Gesicht ab. Der kleine Wolf wusste nicht wie ihm geschah doch er spürte eine grosse Vertrautheit. Die Wölfin rieb sanft Ihre Schnauze an Ihm und erzählte ihm das er Ihr kleiner verlorener Junge war und sie überglücklich war das Sie Ihn wieder hatte.

 

Der kleine Wolf war traurig und glücklich zugleich. Sein Herz fühlte sich nun erfüllt an und war voller Liebe. Daraufhin ging die Mama mit Ihrem Kleinen zur Spitze des Hügels und sie heulten beide zusammen den Vollmond an, diesmal nicht aus Traurigkeit sondern vor Liebe und Glück darüber das sie sich wieder gefunden hatten.